Der Totenwolf (Ernst Wiechert)

Autor: Michael P.

Wortgewaltig dampft die abgrundtiefe Zivilisationskritik aus Ernst Wiecherts Roman „Der Totenwolf“. Seine Sprache schmeckt wie schwerer Rotwein, sie benebelt die Sinne, füllt ganz und gar aus und klebt förmlich am Gaumen. Das galt schon für das Natur-Epos „Der Wald“. Doch diesmal sind die urtümlichen Sümpfe Ostpreußens, die kargen Birken- und Kiefernwälder nicht Hauptfigur der Handlung, sondern lediglich stimmungsvolle Kulisse. Im Kern steht hingegen Wolf Wiedensahl, der Spross eines glücklosen Geschlechts von Großgrundbesitzern. Weitestgehend verarmt zieht ihn die Großmutter in der Abgeschiedenheit eines Torfmoores groß. Hier, fernab der Menschen, entwickelt er sich zu einem animalischen Charakter, den auch Schule und Militär nicht zu brechen vermögen. Mitgefühl ist ihm fremd, mit eiserner Härte geht er gegen sich und gegen jeden anderen vor. Ein wiederkehrendes Motiv ist hierbei die Sehnsucht zum germanischen Heidentum, welches für Wolf im krassen Widerspruch zum Christentum steht, das in seinen Augen die deutsche Seele verdirbt. In der Ur-Katastrophe des ersten Weltkrieges blüht er auf. Er will kein Soldat sein, die Laufbahn zum Leutnant muss man ihm regelrecht aufzwingen, er ist ein archaischer, nordischer Krieger. Ein blutiger Rachengel der über seine Feinde niedergeht, dem der Frieden fremd wird und der sich im Gegensatz zu seinen Kameraden nicht nach dem Ende des Völkerringens sehnt. Der Krieg läutet für ihn und seine beiden väterlichen Freunde die Götterdämmerung ein. Als sich das Ragnarök doch nicht erfüllt, verlässt er enttäuscht das Schlachtfeld. Getrieben von einem unauslöschlichen Fieber will er nun selbst die Vernichtung und Überwindung der siechen Welt herbeiführen. Das Treiben in den Städten und Dörfern widert ihn an. Er kennt kein Mitleid, nicht mit den Seinen und erst recht nicht mit denen, die er als unwürdig erachtet. Fanatisch folgt er seinem Ziel und so gipfelt der Roman in einem Inferno, welches den Leser trostlos zurücklässt. Mit zeitgenössischem Textverständnis ist dieser ebenso schönen wie brutalen Erzählung kaum beizukommen. Es braucht wohl den Erlebnishorizont einer Kriegsgeneration um die Seelenqualen nachempfinden zu können, die den Totenwolf nicht ruhen lassen. Wessen Weg er kreuzt, dem bringt der Leid – ein Umstand der ihm völlig bewusst ist und über den er niemanden im Unklaren lässt. Vor seinem flammenden Blick findet nichts Gnade. Wohin sein Auge schweift, erblickt er nichts als Kreaturen. Das gilt für die Schmuggler und Halsabschneider, die in den Sümpfen hausen, das gilt für Proleten, Säufer und Dirnen in den Städten und das gilt für Drückeberger und Feiglinge an der Front. Alles manifestiert sich in der Gottessuche – doch ist es nicht der Gott Israels. Das Christentum ist für ihn die Ursünde. Die christlichen Werte von Liebe und Duldsamkeit macht er als heimtückisches Gift aus, welches den deutschen Menschen schwächt und in den Untergang treibt. Die steinernen Tempel und Paläste widern ihn an, sie schnüren ihm die Luft ab und deren Zerstörung soll seine Vollendung werden. Rücksicht nimmt er auf niemanden. Pardon gewährt er nicht.

Ernst Wiechert legt mit „Der Totenwolf“ ein bemerkenswertes Buch vor. Es ist unverkennbar Zeugnis seiner Entstehungszeit und dennoch berührt es bis heute. Es ist düsterer und zugleich greifbarer als sein Vorgänger „Der Wald“. Hier rückt ein Misanthrop den Menschen an sich unter das Brennglas – mit seinem Siechtum, seiner Hässlichkeit und seinem Verderben. Bei aller Verzweiflung bleibt doch ein Lichtstreif Edelmut. Vor allem in den Nebencharakteren, wie Wolfs Großmutter oder seinem Mentor, einem alten Afrika-Veteranen, schimmert sie durch. In den beiden Frauen, die nur kurze Momente an Wolfs Seite verweilen dürfen und auch im guten Lehrer, der ihn bis in die flandrischen Stahlgewitter begleitet. Hier blitzt ein Funke Versöhnung auf. Versöhnung mit dem Menschlichen und sogar mit dem Christlichen. Wiecherts innere Zerrissenheit in der Gottesfrage bricht sich in diesen sanften Tönen doch eher Bahn als in dem martialischen Dröhnen des Protagonisten. Wiechert galt bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts als einer der meist gelesenen deutschen Autoren – kaum zu glauben, dass er heute fast in Vergessenheit geraten ist.