Gastfreundschaft

Gastfreundschaft ist ein hohes Gut

Gastfreundschaft ist ein hohes Gut

Autor: Michael P.

„Zu gehen schickt sich, nicht zu gasten stets
An derselben Statt.
Der Liebe wird leid, der lange weilt
In des andern Haus.“

Havamal, Strophe 34

 

Neun edle Tugenden kennt die germanische Überlieferung. Die Quellenlage ist nicht eindeutig und der genaue Kanon variiert. Aber neben Stärke, Treue, Mut oder Aufrichtigkeit ist in meinen Augen ein unverzichtbarer und zeitlos gültiger Wert der der Gastfreundschaft. Gastfreundschaft mag in Gegenwartsohren banal klingen. Die meisten würden sich selbst vermutlich als gastfreundlich beschreiben und eine universelle Gastfreundschaft scheint ja nur zu gut in die One-World-Doktrin zu passen. Aber ist dem so? Würde eine sowohl individuell als auch kollektiv gelebte Gastfreundschaft in der angenommenen Tradition unserer ureuropäischen Vorfahren nicht möglicherweise ein völlig anderes Verhaltensmuster befördern, als jenes dem sich die Mehrheit heute befleißigt?

Einem anderen Menschen Gastrecht zu billigen war kein profaner Akt. Es war eine hoheitliche, beinahe heilige Gunst, die freiwillig gewährt wurde und in der Folge eine eherne Pflicht nach sich zog. In den harschen Lebensumständen des vorzeitlichen Europas – ebenso wie an vielen anderen Stellen rund um den Globus, mochte die Gewährung von Gastfreundschaft existenzielle Bedeutung haben. Es ist eben ein Unterschied, ob mich in der Industriegesellschaft der Nachbar nicht zum Grillen hinüberbittet, oder ob ich im bitteren Winter an der Pforte eines steinzeitlichen Gehöfts abgewiesen werde. Der Gastgeber geht aus freien Stücken die Verpflichtung ein, für das leibliche Wohl und die Sicherheit seines Gastes die Verantwortung zu übernehmen. Er wird den Frieden unter seinem Dach hüten und den Gast vor feindlichen Angriffen in der gleichen Weise schützen, als ob diese ihm selbst gelten würden. Der Bruch dieses Gastrechtes ist ein unverzeihlicher Frevel, der schwerer wiegt als Mord.

Zugleich besteht aber auch eine Pflicht des Gastes. Er wird seinen Gastgeber ehren, dessen Gebräuche respektieren und das fremde Eigentum achten. Ein guter Gast wird immer bemüht sein, eine ideelle Gegenleistung für die ihm entgegengebrachte Huld zu erbringen - etwa einen packenden Bericht seiner Reise oder einen Liedvortrag. Verstößt er gegen seine Pflichten, verwirkt er den Schutz, den ihm das Gastrecht bietet und er wird für sein Handeln konsequent zur Rechenschaft gezogen. Und vor allem weiß der Gast, wann es Zeit für den Aufbruch ist, damit er die Gastfreundschaft nicht überstrapaziert. Denn es besteht nie ein Zweifel daran, daß Gast und Gastgeber sich unterscheiden. Der Gast wechselt nicht die Seite und verschmilzt mit dem Gastgeber. Ihre Identität definiert sich über ihre Unterscheidbarkeit.

Dieses Konzept läßt sich leicht von der Ebene der Individuen auf größere Kontexte übertragen, auf Sippe, Stamm, Volk. Auch hier existiert und funktioniert ein solches Modell von Gastfreundschaft. Aber wie verhält es sich tatsächlich mit Blick auf die in unseren Breiten so gern von Reisenden und Fliehenden beanspruchte Gastfreundschaft? Zunächst bedürfte diese eines kollektiven Ausdrucks der Freiwilligkeit. Und spätestens im Jahr 2021 darf man davon ausgehen, daß die Mehrheit der Deutschen dazu nicht mehr bereit wäre. Im nächsten Schritt wäre damit für uns als gastgebendes Volk die Pflicht verbunden, für das Wohlergehen und der uns Schutzbefohlenen zu garantieren. Eine Schuld, der wir seit Jahren im Übermaß nachkommen. Wie aber steht es um die Achtung des Gastgebers? Wie um die Einsicht, dessen Ressourcen nur maßvoll zu strapazieren? Wie steht es um die fundamentale Erkenntnis, Gast und Gastgeber zu differenzieren? Die Antwort kennen wir leider zu genüge.

Das was hier praktiziert wird, hat mit althergebrachter, gesunder und den Gebräuchen der Menschen entsprechender Gastfreundschaft nichts gemein. Das ist Selbstaufgabe, vorsätzlicher Raubbau am Eigenen bis hin zur physischen Zerstörung. Ist es die Schuld des schlechten Gastes, daß sein Gebaren nicht geahndet wird? In meinen Augen ist es vorrangig das Versäumnis des schwachen Gastgebers, der nicht imstande ist, sein Recht durchzusetzen und die Integrität seines Heims zu verteidigen.

In der atomisierten Gesellschaft steht jeder für sich. Der Besitz des Einzelnen steht über der Solidarität in der Gruppe Gleichartiger. Alte Tugenden sind längst erodiert und hinterlassen uns vereinzelt, geschwächt und ohne körperliche oder spirituelle Kraft, die eine lebensbejahende und von wahren Werten geleitete Gemeinschaft stiften könnte.

Als wache Menschen, die diesem Zeitgeist trotzen, können wir zumindest auf der persönlichen Ebene damit beginnen, diesem Verfall entgegen zu wirken. Wir können wieder Gastfreundschaft unter einander mit Leben füllen. Wir können sie wieder ernst nehmen. Einander Obdach bieten und mit einander teilen. Wenn wir einen Freund in unser Heim einladen, dann können wir uns wieder der Tragweite dieses Aktes bewußt werden. Wir können ihn aus freiem Willen und mit offenem Herzen vollziehen und somit das Jahrtausende alte Band aufnehmen, das uns mit unseren Vorfahren verbindet. Vor allem aber werden wir sicher nicht in die Verlegenheit kommen, das Eigene und das Fremde miteinander zu verwechseln.